Die Ausstellung vereint knapp 30 Fotografien aus zehn Jahren Fotokunst
von Michael Wendt (1999–2009) und zeigt damit die Kontinuität in seiner
Bearbeitung von vorgefundenem Fotomaterial.
Die Vorlagen sind unterschiedlich – Dias oder Papierfotos hauptsächlich aus
den 50er oder 60er Jahren, eine Zeit, in der das Farbfoto sich zunehmend
verbreitete. Bearbeitet werden sie alle nach demselben Prinzip und mit
demselben fototechnischen Verfahren.
Mit seinen Fotografien schafft Michael Wendt Reproduktionen, die aber durch
die manuelle Veränderung so stark verändert werden, dass sie eine ganz neue
Ästhetik erhalten. Da wir die Originale nicht kennen, sind wir bei der
Betrachtung völlig frei.
Die Begriffe – Fotografie, Technik, Reproduktion, Original – lassen an
Walter Benjamin denken, der 1935 seinen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schreibt. Darin sagt er, dass die
unbegrenzte Vervielfältigung von Musik, Malerei und eigentlich aller
bildenden Künste zum Verlust ihrer Aura führt. Auch die Herangehensweise
verändert sich: Mussten sich die Kunstliebhaber früher in ein Konzert
oder in eine Galerie begeben, um ihrer Leidenschaft nachzugehen, so kam
es durch die technischen Reproduktionen, seien es Schallplatten-, Radioaufnahmen
oder Kunstdrucke, zu einer „Entwertung des Originals“.
Hätte es damals schon die Fotografien von Michael Wendt gegeben, wäre Walter
Benjamin sicherlich inspiriert gewesen, seinen Aufsatz zu erweitern oder einen
zweiten Teil zu verfassen, denn hier wird das Prinzip umgedreht:
Wir gehen in die Galerie, um technische Reproduktionen zu sehen, nämlich
die Fotografien von Michael Wendt. Er bedient sich alter, privater Fotoalben
und sucht diese nach Motiven ab. Die Ausgangsbilder sind also keine Kunstwerke,
sondern Schnappschüsse, Urlaubserinnerungen, Andenken. Durch seine Reproduktionen
macht er sie erst zu Kunstwerken, erweckt alte Erinnerungen zu neuem Leben.
Bei ihm gewinnen die alten Fotos an „Aura“. Diese Aura entsteht nicht zuletzt auch
durch die bewusst gesetzten Unschärfezonen in vielen seiner Bilder, die das Motiv auf
eine ganz besondere Art mystifizieren und neu erfinden.
Das gelingt mit Hilfe von Objektiven, die Michael Wendt eigens für diese Effekte
entwickelt hat. Dank dieser Technik kann er Ansichten des Originals hervorheben,
die dem früheren Betrachter so nicht möglich waren. Die Wahrnehmung verschiebt sich völlig.
Ungewöhnliche Ausschnitte, Unschärfen, die in Erinnerungsfotos eigentlich unerwünscht
sind und Perspektivverschiebungen.
Gleich das erste Foto auf der linken Seite „Mann im Licht“ gibt Rätsel auf – durch
die Unschärfe wird, wie in vielen anderen Bildern auch, ein malerischer Effekt erzeugt.
Die Bewegung des Mannes ist eingefroren, er wirkt dadurch fast statuarisch. Der Schauplatz
ist effektvoll beleuchtet, wie bei einem Theaterstück. Trotz der Statik wird eine
Bewegungsrichtung deutlich – zum einen durch den Schritt des Mannes, zum anderen
durch die Schattenlinien im Bild, die auf einen Fluchtpunkt zulaufen. Durch den
gespenstisch leeren Raum, in dem sich der Mann befindet, wird man an die Bilder
Edward Hoppers erinnert.
Der „Mann im Anzug“ schießt wie ein Pilz aus dem Boden, eine starke Aufsicht
verzerrt die Perspektive. Er scheint auf einer Straße zu stehen, aber was sich im
Hintergrund abspielt vermögen wir nicht zu erkennen.
Der „Hockende Mann“ erhält seine Bewegtheit durch die Bewegung der Kamera,
die Michael Wendt beim Fotografieren ausgeführt hat.
Die „Zwei Männer am Hang“ scheinen mehr als Kompositionslinien zu dienen.
Bei dem „Paar im Winter“ spielt die Komposition des Bildes ebenfalls eine große Rolle.
Durch die steil zulaufenden Linien, die sich im rechten Bildrand treffen, wird eine
unglaubliche Dynamik erzeugt, obwohl die beiden Figuren recht statisch scheinen.
Der „Mann vor Automobil“ erscheint uns als stolzer Autobesitzer, das Auto bildet einen Kontrast zum ländlichen
Hintergrund, vielleicht eine Pause im Grünen...
Die Ursprungsbilder sind Souvenirs und Trophäen, Beweisstücke und Dokumente. Fotos,
die an die schöne Zeit erinnern sollen, wenn der Urlaub vorbei ist oder stolz das neue
Automobil für die Nachwelt festhalten sollten.
Sie sagen uns nicht, wo, wann oder von wem sie gemacht wurden. Und dennoch erinnern uns
diese anonymen Fotografien an eigene Erlebnisse oder jene unserer Eltern und Großeltern. Es sind
Erinnerungen an freudige Ereignisse und traurige, lustige oder ernste.
Die Bilder von Michael Wendt erinnern uns aber auch daran, dass unsere Erinnerungen verblassen.
Langsam aber stetig vergessen wir Einzelheiten unserer Erlebnisse, die Bilder verschwimmen.
Wie Träume, an die man sich nach dem Aufwachen nur noch schemenhaft erinnern kann. Das Erlebnis,
die Situation ist noch präsent, nicht aber die Details.
Umgekehrt können es auch gerade Kleinigkeiten sein, an die man sich erinnert, nicht aber das große
Ganze: Onkel Günters rot-weiß gestreifte Krawatte (Weißes Hemd II), Opas goldene Uhr
oder das einprägsame Muster von Tante
Annis Eckbank (Gaststätte I, II, III) ...
Die drei älteren Herrschaften haben dort oben auf dem Podest zur Teegesellschaft oder zum Kaffeekränzchen Platz genommen. Es reichen kleinste Ausschnitte, und wir spinnen die Bilder weiter, lassen die Personen lebendig werden. Hier spielt Michael Wendt nicht mit dem Wechsel von Schärfe und Unschärfe, sondern mit unterschiedlichen Mustern und Strukturen. Wir fühlen uns in der Zeit zurückversetzt.
In den Fotos, die wir machen, steht das Leben still. Der Moment ist angehalten – eingefroren, um weiterleben zu können. Bedeutungslos jedoch für diejenigen, die nicht teilgenommen haben, keine Beziehung zu den Dargestellten haben.
Michael Wendt durchforstet dieses „fremde Terrain“ und geht mit seiner Kamera auf die Suche.
Es ist eine Suche nach dem Neuen im Alten, nach dem Ungesehen und Nebensächlichen. Er präsentiert
und Beiläufiges als Hauptmotiv, lenkt unseren Blick auf scheinbar Nebensächliches.
Dabei arbeitet er rein assoziativ. Entweder wird ihm schon beim Durchblättern der Fotos klar,
welchen Ausschnitt er abfotografieren wird oder er entdeckt die spannenden Details während er
mit seiner Kamera das Bild abfährt.
Michael Wendt schafft es, die alten Bilder zu neuem Leben zu erwecken und sie aus ihrem stillen
Dasein im Fotoalbum zu befreien. Auch wir als Betrachter tragen einen Teil dazu bei, denn wir
akzeptieren keine Unschärfe. Wir haben das Bedürfnis es wieder scharf zu machen und hauchen
dem Ganzen damit Leben ein.
Und am Ende steht – ein Bild aus dem Bild, eine Wiederbelebung der Szenerien und Menschen in unserem Kopf, ganz lebendig. Denn Unschärfe heißt Bewegung und Bewegung bedeutet Leben.
© Text: Verena Borgmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen