EINE WIEDERBELEBUNG DER SZENERIEN

Ausstellungseröffnungrede Juli 2009 GadeWe, Bremen

Die Ausstellung vereint knapp 30 Fotografien aus zehn Jahren Fotokunst von Michael Wendt (1999–2009) und zeigt damit die Kontinuität in seiner Bearbeitung von vorgefundenem Fotomaterial.
Die Vorlagen sind unterschiedlich – Dias oder Papierfotos hauptsächlich aus den 50er oder 60er Jahren, eine Zeit, in der das Farbfoto sich zunehmend verbreitete. Bearbeitet werden sie alle nach demselben Prinzip und mit demselben fototechnischen Verfahren.
Mit seinen Fotografien schafft Michael Wendt Reproduktionen, die aber durch die manuelle Veränderung so stark verändert werden, dass sie eine ganz neue Ästhetik erhalten. Da wir die Originale nicht kennen, sind wir bei der Betrachtung völlig frei.
Die Begriffe – Fotografie, Technik, Reproduktion, Original – lassen an Walter Benjamin denken, der 1935 seinen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schreibt. Darin sagt er, dass die unbegrenzte Vervielfältigung von Musik, Malerei und eigentlich aller bildenden Künste zum Verlust ihrer Aura führt. Auch die Herangehensweise verändert sich: Mussten sich die Kunstliebhaber früher in ein Konzert oder in eine Galerie begeben, um ihrer Leidenschaft nachzugehen, so kam es durch die technischen Reproduktionen, seien es Schallplatten-, Radioaufnahmen oder Kunstdrucke, zu einer „Entwertung des Originals“.

Hermann der Etrusker, Analoge Fotografie

Hätte es damals schon die Fotografien von Michael Wendt gegeben, wäre Walter Benjamin sicherlich inspiriert gewesen, seinen Aufsatz zu erweitern oder einen zweiten Teil zu verfassen, denn hier wird das Prinzip umgedreht: Wir gehen in die Galerie, um technische Reproduktionen zu sehen, nämlich die Fotografien von Michael Wendt. Er bedient sich alter, privater Fotoalben und sucht diese nach Motiven ab. Die Ausgangsbilder sind also keine Kunstwerke, sondern Schnappschüsse, Urlaubserinnerungen, Andenken. Durch seine Reproduktionen macht er sie erst zu Kunstwerken, erweckt alte Erinnerungen zu neuem Leben. Bei ihm gewinnen die alten Fotos an „Aura“. Diese Aura entsteht nicht zuletzt auch durch die bewusst gesetzten Unschärfezonen in vielen seiner Bilder, die das Motiv auf eine ganz besondere Art mystifizieren und neu erfinden.
Das gelingt mit Hilfe von Objektiven, die Michael Wendt eigens für diese Effekte entwickelt hat. Dank dieser Technik kann er Ansichten des Originals hervorheben, die dem früheren Betrachter so nicht möglich waren. Die Wahrnehmung verschiebt sich völlig. Ungewöhnliche Ausschnitte, Unschärfen, die in Erinnerungsfotos eigentlich unerwünscht sind und Perspektivverschiebungen.
Gleich das erste Foto auf der linken Seite „Mann im Licht“ gibt Rätsel auf – durch die Unschärfe wird, wie in vielen anderen Bildern auch, ein malerischer Effekt erzeugt. Die Bewegung des Mannes ist eingefroren, er wirkt dadurch fast statuarisch. Der Schauplatz ist effektvoll beleuchtet, wie bei einem Theaterstück. Trotz der Statik wird eine Bewegungsrichtung deutlich – zum einen durch den Schritt des Mannes, zum anderen durch die Schattenlinien im Bild, die auf einen Fluchtpunkt zulaufen. Durch den gespenstisch leeren Raum, in dem sich der Mann befindet, wird man an die Bilder Edward Hoppers erinnert. Der „Mann im Anzug“ schießt wie ein Pilz aus dem Boden, eine starke Aufsicht verzerrt die Perspektive. Er scheint auf einer Straße zu stehen, aber was sich im Hintergrund abspielt vermögen wir nicht zu erkennen.

Der „Hockende Mann“ erhält seine Bewegtheit durch die Bewegung der Kamera, die Michael Wendt beim Fotografieren ausgeführt hat.
Die „Zwei Männer am Hang“ scheinen mehr als Kompositionslinien zu dienen. Bei dem „Paar im Winter“ spielt die Komposition des Bildes ebenfalls eine große Rolle. Durch die steil zulaufenden Linien, die sich im rechten Bildrand treffen, wird eine unglaubliche Dynamik erzeugt, obwohl die beiden Figuren recht statisch scheinen.

Der „Mann vor Automobil“ erscheint uns als stolzer Autobesitzer, das Auto bildet einen Kontrast zum ländlichen Hintergrund, vielleicht eine Pause im Grünen...
Die Ursprungsbilder sind Souvenirs und Trophäen, Beweisstücke und Dokumente. Fotos, die an die schöne Zeit erinnern sollen, wenn der Urlaub vorbei ist oder stolz das neue Automobil für die Nachwelt festhalten sollten.
Sie sagen uns nicht, wo, wann oder von wem sie gemacht wurden. Und dennoch erinnern uns diese anonymen Fotografien an eigene Erlebnisse oder jene unserer Eltern und Großeltern. Es sind Erinnerungen an freudige Ereignisse und traurige, lustige oder ernste.

Die Bilder von Michael Wendt erinnern uns aber auch daran, dass unsere Erinnerungen verblassen. Langsam aber stetig vergessen wir Einzelheiten unserer Erlebnisse, die Bilder verschwimmen. Wie Träume, an die man sich nach dem Aufwachen nur noch schemenhaft erinnern kann. Das Erlebnis, die Situation ist noch präsent, nicht aber die Details.
Umgekehrt können es auch gerade Kleinigkeiten sein, an die man sich erinnert, nicht aber das große Ganze: Onkel Günters rot-weiß gestreifte Krawatte (Weißes Hemd II), Opas goldene Uhr oder das einprägsame Muster von Tante Annis Eckbank (Gaststätte I, II, III) ...

Die drei älteren Herrschaften haben dort oben auf dem Podest zur Teegesellschaft oder zum Kaffeekränzchen Platz genommen. Es reichen kleinste Ausschnitte, und wir spinnen die Bilder weiter, lassen die Personen lebendig werden. Hier spielt Michael Wendt nicht mit dem Wechsel von Schärfe und Unschärfe, sondern mit unterschiedlichen Mustern und Strukturen. Wir fühlen uns in der Zeit zurückversetzt.

In den Fotos, die wir machen, steht das Leben still. Der Moment ist angehalten – eingefroren, um weiterleben zu können. Bedeutungslos jedoch für diejenigen, die nicht teilgenommen haben, keine Beziehung zu den Dargestellten haben.

Michael Wendt durchforstet dieses „fremde Terrain“ und geht mit seiner Kamera auf die Suche. Es ist eine Suche nach dem Neuen im Alten, nach dem Ungesehen und Nebensächlichen. Er präsentiert und Beiläufiges als Hauptmotiv, lenkt unseren Blick auf scheinbar Nebensächliches. Dabei arbeitet er rein assoziativ. Entweder wird ihm schon beim Durchblättern der Fotos klar, welchen Ausschnitt er abfotografieren wird oder er entdeckt die spannenden Details während er mit seiner Kamera das Bild abfährt.
Michael Wendt schafft es, die alten Bilder zu neuem Leben zu erwecken und sie aus ihrem stillen Dasein im Fotoalbum zu befreien. Auch wir als Betrachter tragen einen Teil dazu bei, denn wir akzeptieren keine Unschärfe. Wir haben das Bedürfnis es wieder scharf zu machen und hauchen dem Ganzen damit Leben ein.

Und am Ende steht – ein Bild aus dem Bild, eine Wiederbelebung der Szenerien und Menschen in unserem Kopf, ganz lebendig. Denn Unschärfe heißt Bewegung und Bewegung bedeutet Leben.

© Text: Verena Borgmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen